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Brief von Max Bruch an Ernst RudorffMusikwissenschaftliches Institut KölnMax-Bruch-ArchivSignatur: Br. Korr. 154, 418

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Brief von Max Bruch an Ernst RudorffMusikwissenschaftliches Institut Köln ; Max-Bruch-Archiv

Signatur: Br. Korr. 154, 418


Bruch, Max (1838-1920) [Verfasser],Rudorff, Ernst (1840-1916) [Adressat]

Schloß Bürgeln bei Badenweiler, 10.07.1872. - 8 Seiten, Deutsch. - Brief

Inhaltsangabe: Reisebericht, Kritiken von Rubinstein Turm zu Babel, Wagner als Dirigent der Zauberflöte, Brahms Uraufführung Triumphlied und Liebeslieder-Walzer, sehr negativ über Brahms und Brahms-Kult, unterstellt ein Verhältnis von Brahms zur Sängerin Louise Dustmann (obszöne Fotos der Sängerin im alleinigen Besitz von Brahms), ER hat Köln abgesagt und bleibt in Berlin an der Hochschule. Transkription:Mein lieber Freund, Wenn diese Zeilen Dich noch vor Deiner Ferienreise in Lichterfelde erreichen sollen, so muß ich mich wahrhaftig beeilen, - denn der 15. ist nahe, der Dich wohin? nach Sylt, oder nach Lauenstein? führen wird. Hab Dank für Deine Worte nach Gladbach, die mich wirklich durch einen Zufall dort angetroffen haben, und nicht nöthig hatten, mir erst 8 Tage lang nachzujagen, wie manche andere Briefe in letzter Zeit. Die Eltern also in Wildbad, jetzt wahrscheinlich schon in Lauenstein; alles Gute an sie, wenn Du sie sprichst oder schreibst. Wir seit 14 Tagen hier „zu Bürglen auf der Höh‘“ – prachtvoll, bekommt uns Beide vortrefflich. Mit erschlafften Sinnen ist nichts anzufangen. Wir gehen noch 1000‘ höher nächstens, wahrscheinlich nach Schluchsee, bei St. Blasien. Ich hoffe, meine Schwester soll doch noch gesund werden. Simrock kommt am 13. d.M. mit Kind u. Kegel nach Baden-Baden; vielleicht geben wir uns einmal Rendez-vous in Freiburg. – Ich war überall: in Bremen, Oldenburg, Düsseldorf (Musikfest), Gladbach, Cöln (8 Tage, bei Hiller gegessen!!), Coblenz, Bonn, Mannheim, Worms. Rubinstein’s Thurmbau hat viel Schönes / das aber auch! Wer es leugnet, oder absichtlich ignorirt, handelt parteiisch / u. viel Häßliches; er hätte doch mehr daran thun können und sollen; es ist die alte Geschichte. In Old[enburg]. 8 Tage bei Dietrich. Der ist ein höchst vortrefflicher, feiner Mensch, vielleicht habt ihr euch jetzt gesehen, er war ja in Berlin. Was macht denn Joachim? Seine Frau ist in Kreuznach, wie ich höre. In Mannheim erzählte Koning, der ein vortrefflicher Musiker ist und scharf beobachtet, ganz tolle Sachen von Wagner, der im Winter dort eine appearence gemacht hatte. Zauberflöten-Ouvertüre so: [Notenbeispiel erster Takt, Fermate doppelt unterstrichen], lunga! unbeschreiblich lange Pause, als wenn überhaupt nichts mehr folgen sollte; Publicum sieht sich verblüfft an, u. denkt, was ist das? Dann endlich, wirklich [Notenbeispiel 2. Takt] dann wieder lunga, lungissima, das Publicum fängt an, sich vom erstauenen zu erholen; endlich [Notenbeispiel 3. Takt] Publicum denkt: Donnerwetter, das ist doch originell! – Ferner diese Stellen [Notenbeispiele weitere 2 Takte „bis“ molto rit. / fast noch einmal so langsam wie das Haupt-tempo. / - dann aber [Notenbeispiel 1. Takt Allegro] nicht bloß tempo Imo sondern in wahnsinnigem Presto. – Dies ist bloß lächerlich und absurd, manirirt und dumm; unverantwortlich aber und ganz polizeiwidrig ist Folgendes: im Andante der 7. Sinf wenn nach dem allmählichen Aufbau des Thema’s, u. dem schönen Anwachsen das ff kommt, hat Wagner die Melodie der Holzbläser von Trompeten mitblasen lassen. Da hört doch vieles auf. - In Karlsruhe warst Du also nicht. Der „engere Kreis“ aber hatte sich zusammengefunden; Alle waren da, berührten mit der Stirne den Boden und versanken im Staub. Johannes der Gott, der sich in einem neuen Werk geoffenbart hatte. Da mir jede Sorte von Infallibilität zuwider ist / päpstliche wie sonstige / war, und stets sein wird, - da ich auch nie geglaubt habe, noch je glauben werde, daß durch cliquenartige, kritiklose Verhimmelung dem einzelnen Künstler wie der Kunst gedient sei, so habe ich auch naturgemäß keine Lust, den freien Standpunct, den ich mir auch gegenüber dieser Johannischen Infallibilität u. Autorität mühsam errungen habe, aufzugeben. Der Bibel hat ja auch schärfste philologische u. historische Beleuchtung durch manche decennien nicht geschadet, wenn auch sehr vieles dann sich menschlicher dargestellt hat, u. manche absurde Interpretation christlicher Theologie (s.z.B. Hohelied) hat schwinden müssen. – Was ich in Bremen von dem neuen Werk (Triumphgesang) gesehen, erinnert mich sehr an den Geist der Händel’schen Zeit, während das Beste und Gewaltigste aus dem Denken unserer Zeit in das Deutsche Requiem hinübergegangen ist. / ich bin aber nicht reactionär genug, um dies curiose Bemühen, im Sinne einer längst vergangenen Zeit zu denken, preisen zu können. - / Deshalb steht mir letzteres höher. – Koning’s Schilderung nach scheint Brahms, mit dem ganzen geschmacklosen Rigorismus einer gewissen Sekte, den Pelion auf den Ossa gethürmt zu haben, oder den Dawalghiri auf den Montblanc; d.h. unaufhörliches f und ff und fff, innerhalb derselbe Stimmungs-Schau, - verbunden mit der bei ihm gewöhnlichen, rücksichtslosen u. widernatürlichen Behandlung der Stimmen, bringen nach dem Urtheil einsichtigster Freunde eine sehr monotone Gesammtwirkung hervor. – Mir thut’s immer wieder leid, daß der Geist in den Menschen hat fahren müssen. – In Oldenburg sah ich (bei Dietrich) seine neuen Lieder, zum Theil Productionen von einer ganz abgefeimten Sinnlichkeit. Schon die Wahl der Texte (vieler) beweist wieder, daß für Herrn Johannes im Grund nichts Höheres besteht als der Geschlechtstrieb etc. Diese Lieder sind alle (Dietrich wußte es) aus der Wiener Zeit, als er das Verhältnis mit der Dustmann hatte. Er hat Dietrich im Frühjahr 1871 Photographien dieser trefflichen donna in fast paradiesischer toilette Dietrich gezeigt, - von denen er der alleinige Besitzer war. Keinen Schritt mehr thu ich diesem cynischen Hund entgegen. – Levi wird man, nach allem, was ich höre, jetzt am besten einen Fanatiker der Technik nennen dürfen. Krebsgängige Canons und 24fache Engführungen tragen außerordentlich viel zur Erhöhung seiner irdischen Glückselickeit bei. – In Cöln hatte man die durch Deine definitive Absage verursachte Enttäuschung noch nicht ganz überwunden. Du kennst ja die große Anhänglichkeit Deiner dortigen Getreuen und kannst also auch ihren Schmerz messen. Du hast so lange geschwankt, daß man zuletzt Deine Zusage mit einiger Bestimmtheit erwartet zu haben scheint. Du bleibst also bei Joachim. Möge es das Rechte gewesen sein, wer kann’s wissen? Ich will es für Dich von ganzem Herzen wünschen u. hoffen. – Schreib‘ mir unter Simrock’s Adr. Mit herzlichen Grüße (auch von Math.) Immer Dein treu ergebener Max Bruch.

Bemerkung: Max BruchDen Pelion auf den Ossa türmen: Bedeutung – wenn Größenwahn schief geht. Seine Herkunft hat diese Redewendung in der Odysse von Homer.Absage ER an Köln: siehe Brief an Joachim Bd. 3 S. 92

Illustrationen: Notenbeispiele

Objekteigenschaften: Handschrift

Pfad: Max-Bruch-Archiv / Korrespondenz

DE-611-HS-4308788, http://kalliope-verbund.info/DE-611-HS-4308788

Erfassung: 12. Dezember 2025 ; Modifikation: 12. Dezember 2025 ; Synchronisierungsdatum: 2025-12-12T10:29:44+01:00