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Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln Max-Bruch-Archiv Signatur: Br. Korr. 154, 413
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Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln ; Max-Bruch-Archiv
Signatur: Br. Korr. 154, 413
Bruch, Max (1838-1920) [Verfasser], Rudorff, Ernst (1840-1916) [Adressat]
Bergisch Gladbach, 11.12.1871. - 12 Seiten, Deutsch. - Brief
Inhaltsangabe: Transkription: Mein liebster Freund, Da sich unsere Rückkehr noch immer verzögert, so vergrößerts sich zugleich das seit langer Zeit bei mir vorhandene Gefühl entschiedenen Unbehagens – wenn ich nämlich bedenke, daß wir Beide seit dem Sommer nicht in der Weise mit einander geistig fortleben konnten, wie wir es seit langem gewohnt sind. Obgleich ich tief in schöner un beglückender, gänzlich absorbirender Arbeit sitze, so fühle ich mich dringend aufgefordert, Dir jetzt Einiges Authentische über uns und den Gang meines Geistes zu sagen, und will Dichd schon hier bitten, recht bald ein Gleiches zu thun, wenn es Dir möglich ist. Die Verzögerung meiner und unserer Rückkehrhängt direct zusammen mit den fatalen Gesundheitszuständen meiner Schwester. Sie war seit Anfang August in Bonn bei Frau Wittgenstein (geb. Landau), deren Güte und Liebe für sie geradezu unvergleichlich ist; wir dachten, nachdem sie sich in Bonn durch Ruhe und vorsichtiges Leben sehr erholt hatte, Oct. nach Berl. Zurückzugehen. Indessen bekam sie Mitte Oct., bei kurzem Besuch in Rüdesheim, eine Art von Rückfall, und mit einem Gefühl, was nahe an Verzweiflung streifte, mußten wir erkennen, daß die mühsam erreichten Resultate eines ganzen Sommers wieder in Frage gestellt schienen; sie konnte nicht einmal eine halbe Stunde gehen! Und nun der Gedanke an unsere Berliner Entfernungen, - und die Unmöglichkeit, wegen jeder Bagatelle zu fahren! Etc. Der Professor Obernier in Bonn hatte bereits erklärt, im Sommer, „ihr Nervensystem sei völlig corrumpirt“, er muß sich alles besehen, aber sie solle nicht glauben, daß sie in kurzer Zeit etwas erreichen werde. In der steigenden, immer peinlichen Ungewissheit consultierte sie nun (Ende Oct.) in Bonn auch einen andern, trefflichen Arzt, der, in Uebereinstiummung mit meinem Onkel, ein örtliches Uebel zu erkennen glaubte, u. alle Hoffnung gab, daß sie nach dem Gebrauch einer längeren Cur ganz gesund werden würde. So lebt sie also ihrer Gesundheit in Bonn, im Hause der Frau Wittg., die sie gar nicht fortlassen wollte. Es ist möglich, daß sie im Januar nun nachkommt, - vielleicht noch später. Da Berlin nichts ist für sie, und auch ich, je näher ich es kennen lerne, je mehr das Gegentheil von Glück und Befriedigung empfinde, so werden wir mit dem frischen Frühjahr fortgehen, und den ganzen Sommer hindurch irgendwo an einem hoch gelegenen stillen Fleck des Schwarzwalds zubringen. Hochgelegener Bergwald ist ihr dringend empfohlen. Auch ich kann da wohl besser arbeiten, als am rand vom Schöneberger Ufer. So weit der leidige Krankheitsbericht; ich wollte, ich könnte Besseres berichten! Noch eins: Laß Dich nicht von Deiner wahrhaft freundschaftlichen Theilnahme etwa verführen, ihr traurig oder wehmüthig zu schreiben; was man thun kann, ist zunächst immer das feste Vetrauen auf völlige Wiederherstellung auszusprechen. – Was sollte ich nur thun, nachdem längeres Bleiben in infinitum zu Bonn sich als nöthig herausgestellt hatte? K. Aug. Str. 52 [Kaiserin-Augusta-Straße, Berlin] ist alles zugeschlossen, unser Mädchen lebt in der lieblichen Heimath, am Siebengebirge bei Ochsen und Eseln und Kühen und denkt sich kein neues Dienstjoch aufzuladen, eine Junggesellen-Existenz könnte ich nicht gut in dem Quartier, verlassen und öd, wie es ist, Monatelang fortführen; also bleib ich, freundlichster Einladung folgend, noch in dem trauten Gladbach, welches mir eigentlich der liebste Ort auf der ganzen Welt ist. Jetzt kommt der Moment, wo ich Dich bitten muß, eine Stuhllehne zu ergreifen. Mein neues Werk, an dem ich mit langentbehrter Wonne und Freudigkeit arbeite, ist die Odyssee. Ich habe mich im Sept. in Rüdesheim bei wiederholtem Lesen für das gedicht aufs Neue in höchstem Grade begeistert, und nach reiflicher Ueberlegung gefunden, daß sich daraus, bei geschickter poetischer Bearbeitung, etwas sehr Gutes und Wirksames für den Concertsaal herstellen ließe, etwas wie ein sehr gesteigerter Frithjof. Ich wählte die Scenen aus, bestimmte die Reihenfolge, machte dann einen vollständigen Plan, bestimmte in jeder Scene, wie viel Textzeilen ich ungefähr für Soli, Chöre etc. haben wollte, und schickte diesen ersten Entwurf an unsern Freund Graff, (jetzt nicht mehr in Tegenberg sondern in Mecklenburg), mit der Anfrage, ob er mir nach meiner Skizze das Gedicht machen wolle. Graff erklärte sich sofort mit besonderer Freudigkeit bereit, konnte damals seine ganze Zeit darauf verwenden, - Ende Oct. war schon das ganze trefflich gelungene Gedicht in meinen Händen. Im Novbr., nachdem ich alles Störende abgeschüttelt hatte, begann ich, und hoffe, Neujahr Dir die Skizze des Ganzen zeigen zu können. Ich habe mich in meiner completten Abgeschiedenheit durch nichts irre machen lassen, mich um Cöln, 4 Gürzenich-Concerte etc. ansolut nicht bekümmert, denn, wenn man etwas Rechtes, u. Selbständiges zu Stande bringen will, so muß man sich nicht um Alles bekümmern, was rings herum vorgeht; hiernach habe ich strengstens gehandelt; vielleicht schimpfen 2 Dutzend Menschen über mich, - vielleicht sogar 3 Dutzend, - aber ich bringe meine Odysee fertig (in der Skizze) mit nach Berlin. – Mit namenloser Freudigkeit hielt ich Ende Oct. ein vollständig gelungenes Gedicht in Händen, welches durchweg von dichterischem Geist zeugte, und zugleich die Zwecke des Musikus an keiner Stelle außer Acht gelassen hatte. Du Kannst Dir vorstellen, wie mir zu Muthe sein mußte, - nach langer, zuletzt geradezu vernichtender Wanderung durch die Hopffer’sche Wüste! Ich habe einen Haß auf den Kerl wie auf keinen andern; doch genug! - Ich bin dem unwürdigen Bund, und durch die Odyssee liegt die Welt wieder anders vor mir. Wenn es Fügungen giebt, so könnte ich kindisch genug sein, eine Fügung in dem Umstand zu erkennen und dankbar zu erahnen, daß mir, dem Dürstenden in der Wüste, der umwölkte Blick geöffnet wurde über diese faulichste Gülle – ich habe daraus gefunden und fühle mich nun unbeschreiblich erfrischt und gekräftigt. Doch wozu so subjectiv? Verzeih! Die Anlage des Ganzen ist sehr einfach; es sind 9 – 10 große Scenen (lyrische) von denen einzelne mehrere Nummern enthalten. Natürlich gemischter Chor; die Epl [Exemplare] von Männer-Ch.n [Chören] haben übergenug von mir. Odysseus Bariton (für Stägemann, Hill), Penelope (für Frau Joachim), Nausikaa (Sopr.) u. einige kleinen Partien. Also: I. Scene 1. a. Großes Vorspiel für Orchester (Griechenland) b. Od. bei Calypso. Chor der Nymphen etc. Od. c. scheidet. Sc. 2. Penelope mit ihren Frauen, nach Telemach Abreise, - Gebet 3. Od. in der Unterwelt. (Chöre der Schatten, der Todten. Erscheinung der Mutter u. des Sohnes Teiresias. Alle Stadien des Grausens. Sc. 4. Od. bei den Sirenen. attaca 5. Seesturm, Erscheinung der Leukothea über den Wogen, Rettung, od. am Ufer, entkräftet. Schläft ein (Großes Chorstück.) II. Sc. 6. a. Nausikaa. Solo (Mädchen-Chor) b. Naus, u, Odysseus. 7. Das Gastmahl bei den Fäaken, Entsendung zur Heimath. 8. Penelope, nächtlich das Gewebe auftrennend. 9. Schlußscene. Chor berichtet kurz die Ermordung der Freier. Duett (Od. u. P.). Großer, sehr breit angelegter, weit ausklingender Schluß-Chor. --- Aller Nachdruck ist auf das Lyrische gelegt. Jede Scene ist schon Musik. – Genelli’s „Umrisse zum Homer“ bringe ich mit . Maria Z. [Zanders] schenkt sie mir. Kennst Du sie? Unendlich großartig und einfach! – Ich wünsche, daß Dir meine Arbeit Freude machen möchte, mein Lieber, und zweifle eigentlich nicht daran. Ich muß Dich aber bitten, einstweilen von dem Gegenstand nichts verlauten zu lassen – allenfalls Joachim darf es wissen. / Sie noch nicht, denn sie ist immerhin eine Frau u. könnte vielleicht davon reden. / denn alles verfrühte Gerede und Gesage und Geschwätz ist mir fatal. – Was Hermione betrifft, so ist sie in Berlin, Dresden und Leipzig def. angenommen; an beiden letzten Orten soll sie im Febr. herauskommen. Von Simrock befürchtete Verzögerungs-Tendenzen scheinen in Berlin, nach Radecke, demnach nicht vorhanden zu sein. Der Abschluß mit Bremen und Stuttgart steht nahe bevor. Auch mit Her Majesty’s Theatre in London schweben Verhandlungen, denen ich ein günstigen Ausgang namentlich aus materiellen Gründen wünsche. Ueberall habe ich tantième, in Dresden sogar dieselbe hohe , wie in Berlin (7% von den Brutto-Einnahmen jeder Vorstellung). Setzt sich Hermione fest, - was Viele ihr prophezeien wollen – so habe ich nicht weiter im Leben um das Materielle zu sorgen. Hat sie nur einen mittleren oder schlechten Erfolg, so habe ich selbst unter diesen Umständen 1872 einen nennenswerthen Gewinn zu erwarten. Die unendliche Hermione Correspondenz hat mein langes Schweigen Dir gegenüber mitverschuldet. Dann auch die Odyssee-Arbeit. Ich komme nach Weihnachten, wünsche Dir ein fröhliches Fest mit den Eltern, u. hoffe bald, wenn Du nicht Auszugsnöthe zu erdulden hast, von Dir zu hören. Neujahr nach Lichterfelde, nicht wahr? - Leb wohl u. sei mit Deinen lieben Eltern und Joachim herzlichst gegrüßt von Deinem alten Max Bruch. Maria Z. grüßt freundlichst.Obernier, Franz [Erwähnt], Graff, Wilhelm Paul (1845-1908) [Erwähnt], Zanders, Maria (1839-1904) [Erwähnt], Hopffer, Bernhard (1840-1877) [vermutlich] [Erwähnt], Wittgenstein, Laura, geb. Landau (1818-) [Behandelt]
Bemerkung: Max Bruch
Objekteigenschaften: HandschriftPfad: Max-Bruch-Archiv / Korrespondenz
DE-611-HS-4308681, http://kalliope-verbund.info/DE-611-HS-4308681
Erfassung: 11. Dezember 2025 ; Modifikation: 11. Dezember 2025 ; Synchronisierungsdatum: 2025-12-11T16:02:04+01:00
